Das digitale Desaster – wie uns das Internet den Sex versaut

Digitales Desaster Internet & Sex

Von Mag. Alexandra Bolena

Mit der zunehmenden Kommerzialisierung von Sexualität werden sexuelle Stimuli umso unattraktiver, je verfügbarer sie sind. Ein Teufelskreis – denn einerseits ist Sex immer und jederzeit verfügbar und lockt ‚das Tier’ in uns, andererseits stumpfen wir durch diese ‚Superreize’ zunehmend ab. Fakt ist: noch nie war es so einfach übers Netz an explizite sexuelle Inhalte zu gelangen, und seien sie noch so schräg, und noch nie war es so einfach direkte sexuelle Kontakte zu suchen und zu finden. Doch was macht diese Allzeitverfügbarkeit von Sexualität mit uns? Was bedeutet das für unsere Partnerschaften und andere zwischenmenschlichen Beziehungen?

Während manche Onlineplattformen tatsächlich noch damit werben, ‚Dates‘ zu vermitteln, werden andere auch in ihrem Marketing schon viel deutlicher. Wer ein erotisches Abenteuer sucht, geht auf eine Casual Sex Site. Dort kann man bei verschiedenen Anbietern geschlechtsspezifisch nach Typ, Vorlieben, zeitlicher und regionaler Verfügbarkeit selektieren und sich binnen Minuten verabreden. Die Verlockung ist groß und warum auch nicht, wenn beide es wollen. Doch wo bleibt der Eros? Und macht uns das auf Dauer tatsächlich glücklich?

Sexuelle Revolution

Experten unterscheiden drei Säulen der Sexualität, nämlich Fortpflanzung, Liebe und Triebe. Diese drei Elemente sind zwar nicht immer in Einklang zu bringen, waren aber viele Jahrhunderte lang zumindest als Idealbild in der Kleinfamilie quasi vereint.

Als in der Mitte des letzten Jahrhunderts mit der Antibabypille ein Verhütungsmittel auf den Markt kam, das es Frauen erstmals ermöglichte Sexualität frei und ohne Angst vor Schwangerschaft zu leben, war’s allerdings vorbei mit diesem idealtypischen Model. Der Startschuss für die sexuelle Revolution war gefallen.

Freie Liebe

Love and Peace, Promiskuität eher die Norm als ‚Treue bis dass der Tod uns scheidet’, Patchworkfamilien und Kinder, die mehr als einen Papa und eine Mama hatten – die, die 70er erlebt haben, werden sich erinnern.

Der Begriff der ‚Liebe’ – also zumindest der einen einzigen, die ein Leben lang halten sollte- , war im Begriff eine andere Bedeutung zu erlangen. Liebe kam und ging, man verliebte sich oft und liebte unterschiedliche Menschen hintereinander, manchmal auch zeitgleich, aber immer seltener einen einzigen Menschen ‚bis dass der Tod uns scheidet’.

In den 70ern gab es dann mit dem Erstarken der Schwulen- und Lesbenszene einen erneuten Umbruch. Die Homosexuellen gingen für ihr Recht auf freie Liebe auf die Straße und zeigten sich erstmals selbstbewusst anstatt sich verschämt zu verstecken.

Harvey Milk, ein von einem Fanatiker ermordete Stadtrat war eine Symbolfigur der damaligen Zeit – als erster offen zu seiner Homosexualität stehende Politiker ist er noch heute eine Ikone der Schwulen- und Lesbenbewegung und sein Leben wurde mehrmals verfilmt.

(Freie) Liebe zwischen homosexuellen oder heterosexuellen Paaren, die Möglichkeit von Verpartnerungen auch für gleichgeschlechtliche Paare einerseits, andererseits die Möglichkeit sich ‚relativ‘ einfach wieder zu trennen und scheiden zu lassen, haben die zweite Säule der Sexualität, die Liebe ordentlich durcheinander gerüttelt.

Exkurs: Damoklesschwert Aids

In den 80er gab es mit der Verbreitung von Aids dann zwar einen ersten schweren Rückschlag und die Revolution schien zunächst ihre Kinder zu fressen. Doch in Wahrheit verhält es sich bei der sexuellen Revolution wie bei allen Revolutionen – ist der Weg einmal eingeschlagen gibt es keinen Weg zurück mehr.

Seit HIV zudem medikamentös relativ gut in den Griff zu bekommen ist, hat diese zunächst tödliche Krankheit auch wieder viel von ihrem Schrecken verloren und konnte die sexuelle Revolution nicht nachhaltig stoppen.

Promiskuität – letztlich ein Pseudonym für ‚freie Liebe‘ – ist heute auch, aber nicht nur in homosexuellen Kreisen wieder lebbar. Sexualität wird gezeigt, ‚safer sex‘ gelebt, und dass ‚sexs sells‘, wissen nicht nur die Werbeexperten. Und dann kann das World wide web und die Revolution erreichte ihre nächste Etappe.

World Wide Web

Das Risiko einer ungewünschten Schwangerschaft ist minimiert, die Liebe hat ihr Gesicht und ihr Erscheinungsbild gewandelt – was als dritte Säule der Sexualität geblieben ist, sind die menschlichen Triebe.

Irgendwo in unserem Schädel sitzt ein Rest von Reptilienhirn, das möglichst oft und auf den kleinsten Reiz hin Sex haben will. Und zwar unabhängig davon, ob dieser Akt bewusst der Fortpflanzung dient oder nicht, und unabhängig davon, ob wir das Objekt der Begierde lieben oder nicht. Der Mensch ist letztlich ein Säugetier und triebgesteuert – ganz egal was wir ‚wissen‘ – unser Körper ‚will (oft genug) nur das Eine‘.

Es ist daher nicht weiter verwunderlich und völlig logisch, dass jede technische Errungenschaft dafür genutzt wird, (auch) den menschlichen Sexualtrieb zu bedienen. Das Internet bzw. die Möglichkeit, jederzeit und überall sexuelle Inhalte abzurufen und zu ‚konsumieren‘ ist dabei eine Möglichkeit, High Tech Sex Spielzeugeine zweite, Sex in virtuellen Welten mit anderen Avataren, eine dritte und wem das noch nicht reicht, der kann sich binnen Minuten auch den echten Kick holen und sich mit Gleichgesinnten für ein rein erotisches Abenteuer zur Casual Sex verabreden.

Superreize

Tools zur schnellen Triebbefriedigung gibt es also wie Sand am Meer, doch was macht das letztlich mit uns? Wie erleben wir Sexspielzeug, das den Superorgasmus binnen Sekunden verspricht – Vorspiel nicht nötig? Wie geht es uns nach einer Verabredung mit dem oder der Unbekannten, den oder die man nach einer halben Stunde Sex auf nie mehr Wiedersehen verlässt? Pure, rasche, animalische Triebbefriedigung einfach weil es möglich ist?

Paar- und Sexualtherapeuten meinen mittlerweile einhellig: ‚Künstliche Reize‘ sind mittlerweile so stark geworden, das natürliche Reize da nicht mehr mithalten können. Wer mit dem High Tech Spielzeug binnen Sekunden zum Orgasmus kommt, wer sich auf ‚Knopfdruck‘ bzw. mit einem ‚Wisch‘ einen willigen Gefährten ins Bett holen kann, oder wer sich im Sexpuppenbordell Mrs. 90:60:90 buchen kann, um alles mit ihr zu machen, wonach ihm gerade der Sinn steht, der wird möglicherweise in der Alltagssituation zu Hause mit der Ehefrau keinen ausreichenden Kick mehr spüren.

Sexuelle Probleme

Immer mehr Menschen kommen mit sexuellen Problemen zu Experten, weil sie bereits so stark auf ‚Extreme Reize‘ konditioniert sind, dass natürliche Reize zur Stimulation nicht mehr ausreichen. Diese ‚Superreiz-Geschädigten‘ wollen immer mehr.

Das Phänomen der Sex- und Pornosucht ist in diesem Zusammenhang eine mögliche Folge des Überkonsums. Eine andere unangenehme Folge der Überreizung und des Überkonsums besteht darin, dass ein Orgasmus in einem partnerschaftlichen Setting kaum mehr möglich ist.

Der Körper – das Reptilienhirn in uns – sagt ‚ich will noch mehr!‘. Dass immer häufiger Männer ab 20 zu Viagra greifen müssen, um überhaupt eine Erektion zu bekommen, dann aber wiederum Probleme dabei haben, zum Höhepunkt zu gelangen, macht das Sexleben der Jungen nicht gerade einfacher, so Experten.

Aufklärung 50 Jahr nach dem Beginn der sexuellen Revolution

„Blümchen und Bienen Aufklärung“ war einmal, heute stehen Eltern bei der sexuellen Aufklärung ihrer Kinder vor ganz anderen Herausforderungen. Kinder sollten schon ab der Volksschule dahingehend sensibilisiert werden, dass Sex zum Leben gehört.

Denn eines ist klar: auch wenn sie noch so viele Schutzfilter in ihrem Computer installieren, irgendein Freund eines Freundes wird einmal Zugang zu einschlägigen Seiten haben und ihr Kind damit konfrontieren. Doch je unvorbereiteter Kinder sind, desto geschockter werden sie sein und desto ‚unangemessener’ werden sie in solchen Situationen reagieren.

Sex ist Teil des Lebens – ebenso wie Alkohol. Beides kann unser Leben bereichern und ruinieren, wenn es in Übermaßen konsumiert wird. Beides ist zudem nicht für Kinder geeignet. Zeitgerechte Aufklärung und Information ohne erhobenen Zeigefinger ist angesagt – und zwar nicht nur einmal sondern immer wieder, in der Schule und zu Hause und möglichst unverkrampft.

Expertentipps

Sexualität und Partnerschaft haben sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert und sind weiteren Veränderungen unterworfen. Die sexuelle Revolution dauert – wie alle Revolutionen – ihre Zeit und es wird Fortschritte, aber auch Rückschritte geben.

Es ist zudem eine weltumspannende Revolution, die einerseits gesellschaftspolitisch sehr viel Sprengkraft in sich birgt, andererseits aber auch jedes Individuum vor große Herausforderungen stellt. In Zeiten in denen alles möglich ist, ist die Frage ‚was will ich‘, und ‚wo ziehe ich meine Grenze‘ eine, mit der sich jeder einzelne auseinandersetzen muss.

Bewusster Verzicht nach einer Zeit des übermäßigen Konsums von Superreizen ist für manche eine Möglichkeit, wieder normale Sexualität zu erlernen und zu erleben. Immer mehr Menschen schließen sich z.B. der NoFap-Bewegung (Fap ist ein englisches Wort für Selbstbefriedigung) an. Frauen heißen Femstronauten, Männer Fapstronauten, und beide haben ein Ziel: keine Pornos mehr und keine Selbstbefriedigung zumindest für 90 Tage um wieder echte Reize spüren zu lernen.

Ob nun ‚Fapstronaut‘ oder nicht – eines gilt ganz sicher: Eigenverantwortung ist angesichts des Überangebots gefragt, und nur wer sich traut gegebenenfalls auch nein zu sagen wird seine Integrität schützen und seine Sexualität gesund erhalten können.
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Quellen:

¹ Wenn es um Triebe geht sind sich Mensch und Tier ähnlicher als allgemein angenommen
² Die ZEIT über die Nofap Bewegung
³ Nofap Forum

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