Kave Atefie im Gespräch mit Simon Hilmar, MSc
Der öffentliche Raum ist Schauplatz alltäglicher Gewaltakte, die oft jedoch nicht als solche verstanden/begriffen/gedeutet werden. Gemeint sind die vielen Gesichter der alltäglichen Belästigungen, auch als „Street Harassment“ bekannt.
Während häusliche Gewalt und sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz in den Fokus gesellschaftlicher Diskussionen und Forschungen gerückt sind, bleiben die subtilen und dennoch belastenden Formen der öffentlichen Belästigung oft im Dunkeln.
Ein Phänomen, das viele Frauen, LGBTQ+ Personen und – in seltenen Fällen – sogar Männer (speziell männliche Jugendliche) erleben, aber dessen Auswirkungen und Ursachen bislang vergleichsweise weniger prominent erforscht wurden.
Die Straße, vermeintlich ein neutraler Raum, wird für viele zum Schauplatz unerwünschter Kommentare, anzüglicher Blicke und unangemessener Berührungen.
Warum jedoch haben diese scheinbar harmlosen Belästigungen nicht die gleiche Aufmerksamkeit erhalten wie andere Formen von Übergriffen?
Diese Frage erfordert einen genaueren Blick auf die gesellschaftlichen Strukturen, die Stigmatisierung und die fehlende Sensibilisierung für die Vielschichtigkeit der Straßenbelästigung.
Ich habe deshalb Simon Hilmar zum Gespräch gebeten, um die Gründe hinter der geringeren Forschungsaufmerksamkeit für „Street Harassment“ zu erkunden.
Vor allem aber, wie es gelingen kann eine sicherere und inklusivere öffentliche Umgebung für alle zu schaffen und welche Rolle die psychosoziale Beratung bei der Lösung dieses dringlichen soziokulturellen Problems spielen kann.
Interview mit Simon Hilmar, MSc
Hilmar hat eine Master-Arbeit über das Thema Street Harassment geschrieben. Sie trägt den Titel: „Von Männern* ausgehende alltägliche Belästigungen gegenüber Frauen* in der Öffentlichkeit. Wie die psychosoziale Beratung angesichts eines psychologischen und soziokulturellen Problems handeln kann“.
Was wird unter dem Begriff „Alltägliche Belästigungen“ verstanden?
Es gibt keine einheitliche wissenschaftliche Definition, jedoch ist es für ein Verständnis der Problematik ganz wichtig zu klären, wovon wir genau sprechen. Die Non-Profit-Organisation Stop Street Harassment, unter Leitung der Sozialwissenschaftlerin und Fachexpertin Holly Kearl, beschreibt Belästigungen in der Öffentlichkeit (hier „Street Harassment“), als Kommentare, Gesten und weitere Handlungen, die Menschen in der Öffentlichkeit ohne ihre Zustimmung und ausgehend von ihnen unbekannten Personen erleben.
Das bekannteste Alltagsbeispiel ist Catcalling: Nachrufen oder Nachpfeifen. Viele Forschungen betrachten diese Belästigungen unter dem Aspekt der genderspezifischen Gewalt, auch wenn dabei meist ein Problembewusstsein über andere öffentliche Belästigungsformen ebenso aufgezeigt wird.
Die Alltäglichkeit sexistischer Übergriffe in der Öffentlichkeit wird allen Menschen bewusst, sobald sie sich intensiver mit Betroffenen darüber unterhalten.
Aber auch die Studienlage zeigt hier klar: Belästigungen geschehen täglich und sie sind große Belastungen im Leben, auch auf globaler Ebene.
Wieso wird hier ein Fokus auf Belästigungen in der Öffentlichkeit gelegt?
Natürlich ist jeder Blickwinkel auf genderspezifische Gewalt wichtig. Relevant ist hier, dass öffentliche Belästigungen lange vergleichsweise weniger prominent erforscht wurden als beispielsweise häusliche Gewalt oder sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz.
Mir scheint, dass besonders in den letzten Jahren, der Fokus der Sozialwissenschaften intensiviert wurde. Es ist allseits bekannt, dass der eigene Wohnort für Betroffene von genderspezifischer Gewalt einer der gefährlichsten Orte sein kann. Dies macht es jedoch umso schlimmer, wenn der öffentliche Raum nun ebenso ein Ort von regelmäßigen Belästigungen ist.
Warum wird das Geschlecht hier so betont?
Weil weitere Studien eindeutig die Annahme bestätigen, die uns aus einem Alltagsverständnis heraus bewusst ist: Öffentliche Belästigungen gehen von (Cis-)Männern aus und Frauen sind davon Betroffen.
Es besteht großteils Klarheit darüber, dass nicht nur Cis-Frauen genderspezifische Belästigungen erleben, sondern alle Personen, die dem FLINTA*-Spektrum zugehörig sind (Frauen, Lesben, intergeschlechtlich, nicht-binär, trans und agender), allerdings ist die Datenlage zu den Erlebnissen von Cis-Frauen wesentlich größer, weswegen ich in diesem Gespräch die binäre Gender-Perspektive wiedergeben werde. Das soll die Problematik der Belästigungen weiterer Personengruppen jedoch keineswegs verharmlosen.
(Cis-)Männer haben nachweislich ein höheres Sicherheitsgefühl in der Öffentlichkeit. Belästigungserfahrungen sind ein hoher Belastungsfaktor für die Psyche und für das Wohlbefinden in der Öffentlichkeit von Betroffenen. Hier zeigt sich eine große Ungleichheit für die Gesundheit verschiedener Personengruppen.
Wieso ist das nun für psychosoziale Beratung relevant?
In Österreich besteht mit dem reglementierten Gewerbe der Lebens- und Sozialberatung neben der Medizin, der Psychotherapie und der Gesundheitspsychologie ein international einzigartiges Modell für eine zusätzliche Säule des Gesundheitssystems. Durch die Reglementierung ist die Ausbildung staatlich geprüft und strengen Kriterien unterzogen.
Der Fokus der psychosozialen Beratung in Österreich liegt hierbei auf Prävention, Resilienz und Salutogenese, kurz gesagt: Die Arbeit mit gesunden Menschen, bevor diese in eine Krankheit rutschen würden.
Jüngere wissenschaftliche Beiträge zu Beratungswissenschaften aus Deutschland betonen weiters, dass Beratung auch die Kompetenz hat, kontextorientiert zu arbeiten. Dies meint, die Anliegen der Klientel auch in einem gesellschaftskritischen („reflexiven“) Rahmen zu betrachten und so neben der Arbeit mit Einzelpersonen, die Makroperspektive hinter individuell erlebten Problemen zu hinterfragen.
Diese Blickwinkel zeigen, dass alltägliche öffentliche Belästigungen sehr schlüssig in den Verantwortungsbereich der psychosozialen Beratung fallen können.
Was also kann die Beratung hier tun?
Da die Verbindung von öffentlichen Belästigungen und der Beratung als psychologisches Hilfsformat noch relativ wenig erforscht ist, gilt es noch viele theoretische und praktische Erkenntnisse darüber zu generieren, welche Interventionen konkret hilfreich sein können.
Von bestehender Literatur ausgehend und bezogen auf meine eigene qualitative Forschung, lassen sich allerdings spannende Potenziale ableiten. Zu allererst ist es für eine kritische Beratungshaltung wichtig, zu reflektieren und Stellung zu beziehen: Öffentliche Belästigungen geschehen alltäglich und sie wirken sich auf die Psyche Betroffener aus.
Es besteht die eben genannte genderspezifische Dynamik, die uns zeigt, dass Belästigungen von Männern ausgehen und dass vorwiegend Frauen davon betroffen sind. Wir als Beratende haben die Verantwortung, die Gesundheit der Gesellschaft präventiv zu stärken und können kontextorientiert dazu beitragen, dass soziale Missstände erkannt werden, sowie dass gegen sie vorgegangen wird. Eine solche grundlegende Haltung ist nicht nur für die Berufsgruppe intern wichtig, sie zeigt in ihrer Außenwirkungen auch Betroffenen von Belästigungen, dass sich Gesundheitsberufe über dieses Problem bewusst sind und Hilfe bieten können.
Belästigungen in der Öffentlichkeit sind ein dringliches Problem, doch werden eher selten in Beratungs- oder Therapie-Situationen thematisiert. Wir sollen Menschen mit Belästigungserfahrungen zeigen, dass sie nicht alleine sind, dass ihre Erfahrungen ernstgenommen werden und dass sie sich auch mit diesem Thema an professionelle Vertrauenspersonen wenden können. Besonders männliche Berater müssen sich hier
kritisch selbst hinterfragen und empathische Offenheit zeigen.
Und wie lässt sich diese Haltung innerhalb einer Beratungspraxis nutzen?
Natürlich ist es wichtig, eine solche Haltung auch im konkreten Gespräch mit der Klientel zu vermitteln. Vertrauen ist einer der wichtigsten Faktoren innerhalb der Beratung.
Sollten ganz akute Irritationen wegen kürzlich erlebten Belästigungserfahrungen bestehen, können wir verschiedene Techniken der Krisenintervention nutzen, um eine Beruhigung und Einordnung der Gefühle zu ermöglichen.
Aber auch hier bedarf es zuerst des Vertrauens und des Wissens, dass Betroffene sich in solchen Krisen überhaupt an Beratende wenden können. Da Betroffene Belästigungen jedoch meist sehr häufig erleben und dies oft auch schon seit sie jugendlich sind, bestehen hier z.B. bei Catcalling seltener akute Krisen, als ein dauerhaftes Unbehagen. Auch wenn die meisten Belästigungen physisch weniger offensiv sind als z.B. Schlägereien oder Vergewaltigungen, sind sie dadurch nicht „leicht zu ertragen“ oder „nicht schlimm“.
Betroffene berichten hier konkret von starken Erfahrungen der Degradierung, Machtausübung seitens der Verantwortlichen und von schwer zu kanalisierenden Gefühlen. Da Belästigungen jedoch kaum nachzuweisen und wie im Falle Österreichs selten überhaupt strafbar sind, steigt die Frustration nur noch mehr.
Was sich im Beratungssetting positiv feststellen lassen könnte(!) ist, dass viele Betroffene eigenständig ein hohes Maß an Resilienz und diverse Coping-Strategien entwickeln, um diese alltäglichen Situationen „bestmöglich“ zu überstehen.
Hier stoßen wir aber an eine kritische Grenze: Reicht es aus, wenn Betroffene die Lösung der Situation selbst in die Hand nehmen (müssen)?
Die Antwort ist eindeutig: Nein!
Erfahrungen von Belästigungen werden für Betroffene nicht weniger belastend, nur weil sie selbst einen möglichen Ausweg aus einzelnen Situationen gefunden haben. Alleine der Fakt, dass Belästigungen etwas
sind, womit Frauen alltäglich rechnen, macht die Öffentlichkeit zu einem ungleich begehbaren Raum für verschiedene Personengruppen.
Aber Resilienz und Coping sind doch hilfreiche Fähigkeiten?
Genau, jedoch stoßen diese Konzepte in einer kontextorientierten Sicht an Grenzen. Wie resilient können Betroffene überhaupt werden, wenn gesellschaftliche Ungleichheiten dauerhaft bestehen? Wollen wir Symptome mildern oder Krankheiten vorbeugen? Nachhaltige Besserung gelingt neben Veränderungen des Verhaltens durch Veränderungen der Verhältnisse.
Gemeindepsychologische Erkenntnisse schlagen hier den Begriff Empowerment vor. Diesen sehe ich als sozialkritische Ergänzung zum Modell der Resilienz.
In diesem Sinne meint Empowerment, die gesellschaftlichen Bedingungen hinter psychologischen Problemen mitzudenken. Bezogen auf Belästigungen ist es relevant, in einem Beratungssetting auch sexistische Normen zu hinterfragen, feministische Haltungen zu zeigen und die Belastungen von Menschen nicht ausschließlich als zu bewältigende Probleme Einzelner zu verstehen.
Mit Empowerment in der Beratung lässt sich Vernetzungsarbeit für Betroffene ermöglichen, z.B. in Gruppenberatungen. Aber auch Vereine und nachbarliche Zusammenschlüsse können von einem kontextorientierten Format der Beratung profitieren.
Die Veränderungen sozialer Verhältnisse sollen Ermächtigung für Individuen ermöglichen, doch Einzelgespräche sollen dadurch nicht in den Hintergrund geraten.
Wenn Betroffene Gesprächsbedarf haben, ist es weiterhin wichtig, psychosoziale Angebote für sie bereit zu halten. Z.B. die Methode des sokratischen (oder philosophischen) Dialogs eignet sich dazu, um gesellschaftliche Strukturen hinter Belästigungserfahrungen kritisch zu diskutieren.
Auch psychodramatische Aufstellungen sind klassische Beratungsmethoden und lassen sich mit Themen sozialer Missstände gestalten. Um zu ergründen, wie Betroffenen am besten geholfen ist, bedarf es jedoch vieler Ressourcen, Zeit und Engagement.
Gibt es sonst noch Möglichkeiten, wie Betroffenen geholfen werden kann?
Am wichtigsten ist es, Lösungen nicht nur mit den Betroffenen zu erarbeiten. Besonders jungen Frauen darf nicht vermittelt werden, dass sie Schuld an einer Belästigung wären. „Don’t teach your daughters how to dress. Teach your sons how to respect women“.
Verantwortliche Männer müssen erreicht und sich den Konsequenzen ihrer Taten bewusst werden. Das ist sehr schwer, da die Wenigsten sich selbst eingestehen, dass sie überhaupt jemanden belästigt haben (auch das zeigt uns die Wissenschaft).
Und selbst wenn ein Mann sich Feminist nennt, ist es entscheidend, vorherrschende Genderhierarchien weiter zu reflektieren und sich selbst kritisch zu hinterfragen. Auch hier gelten die eben genannten Möglichkeiten zur Erforschung von Beratungsmethoden.
Dazu müssen wir mehr öffentliche Aufmerksamkeit und Sensibilität für diese Themen kultivieren. Männerberatungen und männlichkeitskritische Vereine leisten bereits wichtige Beiträge. Gemeindepsychologische Netzwerkarbeit ist auch hier entscheidend und wäre eine klare Aufgabe, die in den Verantwortungsbereich von psychosozialer Beratung fallen kann.
Die Idee der Psychoedukation lässt sich auch als Sozioedukation erweitern. Beratung kann hier einen Teil zu gesellschaftlicher Aufklärung beitragen, wenn wir uns gemeinsam dafür einsetzen.
Mit diesen gesammelten Ideen kann ein nachhaltiges, präventives und gesundheitsorientiertes Modell der Beratung entstehen. Dieses soll progressiv dafür eingesetzt werden, unsere Gesellschaft weniger belastend für einzelne Personengruppen zu gestalten.
Ich danke vielmals für das Gespräch!
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