Kranke Jugend – übergewichtig, unbeweglich, konzentrationsschwach

Kranke Jugend - übergewichtig, unbeweglich, konzentrationsschwach

Von Volkmar Weilguni

Das Bundesministerium für Gesundheit hat erstmals einen Kinder- und Jugendgesundheitsbericht vorgelegt. Er bestätigt negative Entwicklungen, vor denen Experten wie Klaus Vavrik schon seit Jahren ebenso lauthals wie ungehört warnen.

Der erste „Österreichische Kinder- und Jugendgesundheitsbericht“ fasst den Gesundheitszustand der rund 1,7 Millionen Kinder und Jugendlichen in Österreich, das sind knapp 20 Prozent der heimischen Bevölkerung, sowie deren medizinische Versorgungssituation zusammen. In vielen Bereichen bleibt die Information aber leider äußerst lückenhaft, weil dazu kaum verwertbares epidemiologisches Datenmaterial vorliegt.

Das ist umso unverständlicher, als seit Jahrzehnten 1,2 Millionen Schüler von ihren Schulärzten zumindest einmal pro Jahr untersucht, vermessen, geimpft und auf einem Gesundheitsblatt dokumentiert werden. Im Laufe der Zeit hat sich ein beachtlicher Pool an validen Gesundheitsdaten angesammelt, aus dem sich bei entsprechendem politischem Willen relativ einfach und kostengünstig wirkungsvolle präventivmedizinische Maßnahmen ableiten ließen.

Die wertvollen Informationen wandern aber unbeachtet in irgendeine Schublade, weil sich Bildungs- und Gesundheitsministerium seit Jahren nicht einigen können, wer die Kosten für eine wissenschaftliche Auswertung übernimmt.

„Laut einer HBSC-Studie aus 2010 wird bei ca. 17 Prozent aller Elf- bis Fünfzehnjährigen eine ärztliche Diagnose gestellt, wir wissen aber nichts Genaues darüber, es gibt weder Klassifizierung noch Statistiken dazu. Schade, denn wir haben ca. 190.000 chronisch kranke Kinder an Österreichs Schulen“, bekennt Dr. Erich Lemberger Vizepräsident der Gesellschaft der Schulärztinnen und Schulärzte Österreichs (GSÖ).

„In vielen Ländern werden Schulgesundheitsdaten ausgewertet und entsprechend rechtzeitig in einem passenden Ausmaß gegengesteuert, etwa mit Gesundheitsprojekten“, ergänzt GSÖ-Präsidentin Dr. Judith Glazer: „Das scheint in Österreich nicht erwünscht zu sein bzw. entsteht sogar der Eindruck, dass eine Auswertung blockiert wird.“

Fehlende Datenlage erschwert Bedarfsplanung

Einer der seit Jahren genauesten und zugleich kritischsten Beobachter in Sachen Kinder- und Jugendgesundheit ist Prim. Dr. Klaus Vavrik. Er begrüßt es zwar, dass nun „erstmals von offizieller Stelle ein österreichweiter Kinder- und Jugendgesundheitsbericht vorgelegt wurde“, inhaltlich sei der Bericht jedoch ein „ernüchterndes Dokument dafür, wie dünn und unsystematisch die Datenlage und wie gering der Fortschritt bei der Umsetzung von Maßnahmen tatsächlich ist“, sagt der Präsident der Liga für Kinder- und Jugendgesundheit.

Das Fehlen von zentralen Daten etwa zur Prävalenz von chronischen und psychischen Erkrankungen habe zur Folge, dass der Bedarf an Versorgungsangeboten nur unzureichend eingeschätzt werden kann. Schade sei zudem, dass der Bericht nicht der Struktur der 2012 mit vielen Fachleuten erarbeiteten Kinder- und Jugendgesundheitsstrategie folgt, kritisiert Vavrik: „Das hätte die Chance eröffnet, eine politische Strategie mit Material zu unterfüttern und so deren Status und Entwicklung zu illustrieren.“

Chronische Erkrankungen nehmen zu

Erwartungsgemäß positiver bewertet die im Gesundheitsministerium zuständige Sektionschefin für Öffentliche Gesundheit Dr. Pamela Rendi-Wagner den Bericht. Er zeige durchaus positive Trends, unter anderem Rückgänge bei Geburten von Teenagern bzw. Frühgeburtenraten und Mehrlingsschwangerschaften nach In-vitro-Fertilisation.

Zudem würden Jugendliche heute weniger rauchen und Alkohol trinken als noch 2010. „Das sind Erfolge unserer Präventionspolitik, die sich langfristig auch epidemiologisch niederschlagen wird“, gibt sich Rendi-Wagner optimistisch.

Auch wenn die genannten Zahlen tatsächlich leicht zurückgegangen sind, so bleiben sie aber immer noch besorgniserregend. Laut Bericht haben immerhin 22 Prozent der 11- bis 15-Jährigen schon geraucht (zehn Prozent der 15-Jährigen tun dies täglich).

Sieben Prozent konsumieren regelmäßig Alkohol. Übergewicht, mangelnde körperliche Betätigung sowie ungesunde Ernährung sind Ursachen für immer mehr chronische Erkrankungen bereits im Kindesalter. 16 Prozent der 11- bis 15-Jährigen leiden an zumindest einer – ärztlich diagnostizierten – chronischen Krankheit wie etwa Neurodermitis, Heuschnupfen oder Asthma. Auch Diabetes nimmt zu. Waren 1999 nur zwölf von Hunderttausend Kindern an Typ-2-Diabetes erkrankt, so waren es 2007 bereits 18,4. Aktuellere Zahlen gibt es nicht.

Das jugendliche Übergewicht bleibt somit eine entscheidende Herausforderung für die Gesundheitspolitik. Während in puncto Ernährung zumindest vereinzelte erfolgreiche Initiativen Hoffnung geben, Stichwort Gesundes Schulbuffet, spitzt sich die unbefriedigende Situation bezüglich der regelmäßigen Bewegung immer noch weiter zu.

Smartphones und Co. haben wohl die Mobilität der Daten erhöht, diejenige der Benutzer aber noch weiter eingeschränkt, bestätigen Schulärzte, Pädagogen und Eltern unisono. Den Schulen fehlen für Initiativen Ressourcen und Geld, den Eltern Zeit und Konsequenz, um gegen den Gruppenzwang erfolgreich anzukämpfen. Und revolutionäre Initiativen wie die tägliche Turnstunde sind – trotz hunderttausener Unterstützungsunterschriften vom Bundespräsidenten abwärts – ohnehin von einer Realisierung weiter entfernt denn je.

Defizite bei psychischen Erkrankungen

Besonders dünn sind die empirischen Daten laut Bericht im Bereich der psychischen Erkrankungen bzw. der Auffälligkeit von Kindern und Jugendlichen. Regionale Erhebungen aus Kindergärten und Volksschulen geben zumindest Hinweise darauf, dass bei rund zehn Prozent der Vier- bis Siebenjährigen Verhaltens- und emotionale Auffälligkeiten vorliegen könnten. Außerdem nehmen laut Beobachtungen der Schulärzte und Pädagogen Aggressionspotenzial und Gewaltbereitschaft spürbar zu.

Eindeutig feststellbar sind hingegen bestehende Löcher im Versorgungsnetz. Besonders davon betroffen sind auch hier sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche. Mag. Gerald Loacker, Gesundheitssprecher und stellvertretender Klubobmann der NEOS im Nationalrat, ortet sogar eine ganz bewusste und „systemweite Verknappungspolitik der Träger der Sozialversicherung, die eine Mehrklassenmedizin geschaffen“ habe, die seines Erachtens nach „dem Anspruch des österreichischen Gesundheitswesens nicht würdig ist“.

Den nur 340 Ärzten mit Kassenvertrag für Kinder- und Jugendheilkunde stünden inzwischen 280 Wahlärzte gegenüber, die aber für viele Eltern finanziell nicht leistbar wären, beklagt Loacker: „Die Strategie des Hauptverbands, möglichst viele Kosten in den privaten Bereich auszulagern, trifft Kinder aus einem sozial schwachen Umfeld besonders hart.“ Ein besonders schlimmeres Bild zeige sich diesbezüglich in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, wo mit aktuell gerade einmal 26 Kassenstellen nur rund ein Viertel der benötigten Stellen vorhanden sei.

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