Big money – die neue „cash-for-care“-Medizin

Big Money Medizin

Von Volkmar Weilguni

Genug ist manchen noch lange nicht genug. Die moderne Medizin leidet heute eher am Problem einer Über- als einer Unterversorgung. Das kostet nicht nur viel, sondern schadet mitunter auch den betroffenen Patienten.

Wirtschaftsfaktor Medizin

Darf es ein bisschen mehr sein? Eine Frage, die wir bis jetzt nur von der Feinkostabteilung eines Lebensmittelladens zu kennen glaubten, wird jetzt auch in der Medizin immer verbreiteter. Der Unterschied ist nur, wir werden erst gar nicht gefragt, ob wir das überhaupt wollen.

Es wird gescreent, behandelt und operiert, was das Zeug hält, immerhin müssen die teuren Medizinprodukte und Spezialisten ja auch wirtschaftlich gerechtfertigt werden. Und das Beste dabei: Die Krankenhausbetreiber verdienen daran auch noch prächtig. Was macht es da schon aus, wenn die Volkswirtschaft dabei wieder einmal durch die Finger schaut. Man kann es ja nicht allen recht machen. Bedrohlich wird es aber spätestens dort, wo ein Zuviel an Therapie nicht nur die Behandlungskosten in die Höhe treibt, sondern zur lebensbedrohenden Gefahr für die Patientin, den Patienten wird.

„Big Data“ lautete das große Thema bei den diesjährigen Gesundheitsgesprächen im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach. Wie geht die Medizin mit den riesigen Datenmengen um, die nicht zuletzt mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms oder den bahnbrechenden Erkenntnissen der modernen Gehirnforschung einhergehen? Wie gehen wir damit um – aus ethischen genauso wie aus wirtschaftlichen Gründen? Ein spannendes Thema. Genauso spannend wäre aber auch die Frage nach dem „Big Money“ in der Medizin. Bei Ersterem stehen wir noch am Beginn der Entwicklung, bei Letzterem sind wir schon mitten drinnen.

Behandeln auf Teufel komm raus!

In der modernen Medizin haben die Ökonomen längst das Sagen übernommen, so lautet jedenfalls die These des deutschen Wissenschaftsjournalisten und Autors Dr. Frank Wittig. Für Jungärzte sei die rein ökomische Ausrichtung der Medizin inzwischen so selbstverständlich, dass sie über die Sinnhaftigkeit dessen kaum mehr reflektieren würden.

Wer daraus aber jetzt vorschnell schließen würde, dass medizinische Leistungen Bedürftigen nicht mehr zur Verfügung gestellt werden, weil sie zu teuer und „unwirtschaftlich“ sind, der irrt, meint Wittig. Das Gegenteil sei eher die Regel, denn Ökonomie und Überversorgung – Überdiagnose genauso wie Übertherapie – sind für ihn nur ein scheinbarer Widerspruch.

Das äußere sich unter anderem durch eine Vielzahl unnötiger Operationen und wirkungsloser Früherkennungsprogramme. Wittig hat dazu ein Buch geschrieben, das weit über Deutschland hinaus große Debatten auslöste: „Die weiße Mafia. Wie Ärzte und die Pharmaindustrie unsere Gesundheit aufs Spiel setzen.“*

Wittig formuliert in seinem Buch ganz bestimmt journalistisch pointiert und bevorzugt in seiner Überspitzung wohl auch ein bisschen die plakative Schwarz-Weiß-Malerei gegenüber der zunehmend komplexen Realität. Der Kern seiner Thesen – Geschäftemacherei – wird aber von verschiedenen Daten und unabhängigen Institutionen durchaus gestützt. Das macht ihn plausibel.

Dazu zählt unter anderem eine OECD-Studie, die sich die Entwicklung der operativen Eingriffe in Deutschland über die vergangenen Jahre genauer angesehen hat und in diesem Zusammenhang von einer „auffälligen Mengendynamik“ spricht. Eine generelle Zunahme von 13 Prozent zwischen 2006 und 2010 – in einzelnen Fächern bis zu 40 Prozent – wäre aber medizinisch kaum zu erklären.

Für Wittig steht jedenfalls fest: Es wird zu viel operiert in Deutschland (und rund um Deutschland herum genauso), aus einem rein ökonomischen Interesse heraus. Als konkretes Beispiel nennt er die inzwischen äußerst umstrittene Knorpelglättung. Über 200.000 Eingriffe würden in Deutschland pro Jahr durchgeführt, obwohl etwa die Mosley-Studie – aber auch viele andere wissenschaftliche Studien – längst den „evidenzbasierten Beleg“ geliefert hätten, dass sich für diese Eingriffe keine medizinische Sinnhaftigkeit erbringen lässt. 200 Patienten sterben dafür an den Folgen der OP.

Solche und ähnliche Rechenmodelle wären in nahezu allen Fachbereichen der modernen Medizin zu finden, wenn man sie nur sucht, ist Wittig überzeugt. Die offene Frage sei nur, inwieweit die Ärztinnen und Ärzte selbst davon wissen, dass sie unnötige Eingriffe machen und wie viele deswegen unter Druck gesetzt werden. „Manchmal habe ich die Horrorvision, dass sie es alle wissen, dass sie nur Theater spielen, dass sie alle ihre Patienten nur für Nonsens-OPs missbrauchen.“

Umstrittene Screening-Programme

Kein gutes Haar lässt der Autor auch an flächendeckenden Früherkennungsprogrammen, etwa an einem Mammografie-Screening, um bei einem aktuellen heimischen Thema zu bleiben. Das neue österreichische Programm nennt Wittig „wirklich schlimm“ und verweist auf eine aktuelle kanadische Studie, die „keinen Nutzen bezüglich einer verringerten Sterblichkeit ausmachen“ konnte. Es sei ein Skandal, dass Frauen mit falschen Zahlen gelockt und bewusst in die Irre geführt würden, was den Kosten-Nutzen-Effekt betrifft: „Laut COCRAN-Metastudie werden zehn Frauen unnötig behandelt, um eine zu retten und nochmals zehnmal so viele werden in Todesangst versetzt.“

Erst vor Kurzem hat das Swiss Medical Board, eine unabhängige Einrichtung der Konferenz der Gesundheitsminister der Schweizer Kantone und der Schweizerischen Akademie für Medizinwissenschaft, die Frage „Erfüllt das Mammografie-Screening die Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit?“ mit einem eindeutigen „Nein“ beantwortet.

Der Preis sei bei vergleichbar geringem Nutzen einfach zu hoch, schreiben die Board-Mitglieder Prof. DDr. Nikola Biller-Andorno, Direktorin des Instituts für Biomedizinische Ethik an der Uni Zürich, und Prof. Dr. Peter Jüni, Direktor des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin an der Uni Bern in einem Artikel im New England Journal of Medicine.

Und selbst dieser geringfügige Nutzen sei im Lichte der neuen Behandlungsmethoden zweifelhaft: „Das Mammakarzinom gehört zu jenen Krebsarten, die heute am besten zu behandeln sind, außerdem ist seine Sterblichkeit seit Jahren rückläufig. Das größte Risiko für Brustkrebs ist das Screening selbst mit seinen zahlreichen Überdiagnosen und Übertherapien von harmlosen Krebsvorstufen“, heißt es in dem Artikel.

Nun wäre es bestimmt ein fataler und gefährlicher Fehler, daraus den Schluss zu ziehen, dass Mammografie-Screenings (und andere Vorsorgeprogramme) kategorisch abzulehnen sind. Aber das Gießkannenprinzip, also allen das gleiche – und am besten auf breiter Front – anzubieten, vielleicht auch nur aus dem durchaus ehrenwerten Selbstverständnis heraus, eine Zwei-Klassen-Medizin damit zu verhindern, ist höchstens der zweitbeste Weg. Jeder Patient ist ein Individuum, das muss auch die moderne Medizin entsprechend berücksichtigen. Die Zukunft heißt personalisierte Medizin. Aber das ist eine andere Geschichte.

* Buchtipp: Wittig, Frank: „Die weiße Mafia. Wie Ärzte und die Pharmaindustrie unsere Gesundheit aufs Spiel setzen“, Riva Verlag, 3. Auflage 2013

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