Von Volkmar Weilguni
Die Medizin der Zukunft wird „participatory, personalised, predictive and preventive“ sein. Nach E-Health und M-Health kommt jetzt also P-Health, oder genauer gesagt: P4-Health. Was sich dabei ändern wird und welche Stolpersteine dafür aus dem Weg zu räumen sind, darüber diskutierten 600 internationale Experten bei den diesjährigen Gesundheitsgesprächen im Rahmen des Europäischen Forum Alpbach. Was sind die Folgen der Digitalisierung der Medizin und des gläsernen Patienten auf das Gesundheitssystem?
Die vier „P“ in P4-Health stehen also für „participatory“ (teilhabend), „personalised“ (personalisiert), „predictive“ (vorausschauend) und „preventive“ (vorsorgend) und sollen die Medizin, so die Hoffnung ihrer Fürsprecher, patientenorientierter machen. Die stetig steigenden Möglichkeiten der modernen Technologie sollen demnach punktgenauer zum Nutzen des einzelnen Patienten als ein Individuum eingesetzt werden, nicht bloß zur Effizienzsteigerung des Systems.
„Die P4-Medizin wird proaktiv statt reaktiv, individualisiert statt auf Gruppenbasis funktionieren“, bestätigt der amerikanische Gen-Forscher Leroy Hood, Gründer und Vorstand des Institute for Systems Biology in Seattle, in seiner Keynote im Rahmen der Alpbacher Gesundheitsgespräche. Und sie werde „auf wissenschaftlich basierte Wellness statt auf Krankheit ausgerichtet sein“.
Dazu bedarf es großer Datenmengen, sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene. Die Herausforderung besteht dabei aber nicht so sehr im Sammeln der benötigten Daten, sondern in deren sinnvoller bzw. nutzbringender Aufbereitung.
Denn schon heute besteht eines der herausforderndsten Probleme der Medizin darin, dass Ärzte mit der stetig steigenden Informationsflut immer weniger zurechtkommen, meint Gerald Gartlehner von der Donau-Universität Krems. Jedes Jahr würden weltweit mehr als drei Millionen medizinische Fachartikel und Studien publiziert, rechnet der Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin an der Donau-Universität Krems vor: Um immer am aktuellen Stand der Wissenschaft zu bleiben, müsste jeder Arzt demnach wöchentlich 160 Stunden Fachliteratur lesen.
Die wesentliche Aufgabe von medizinischen Daten müsse es also sein, findet auch Ran Balicer, Direktor des Clalit Forschungsinstituts in Tel Aviv, die Arbeit derer zu erleichtern, die im Zentrum der Medizin stehen, der Ärzte und der Angehörigen anderer Gesundheitsberufe: „Um sie müssen wir uns als Erstes kümmern“, sagt Balicer, „das heißt: nicht noch mehr Daten, sondern die für sie wesentlichen so aufbereitet zur Verfügung zu stellen, damit die Ärzte sie optimal in ihre tägliche Routine integrieren können.“
Auch wenn alle von Big Data reden. Die wahre Kunst liegt also in der Reduktion, Small statt Big Data.
„Sauberes Wissen“ für Ärzte & Patienten
In einer immer stärker von kommerziellen Interessen geprägten Medizin geht es aber nicht nur um eine Reduktion der Datenmenge, sondern auch um den Zugang von Ärzte und Patienten zu unabhängiger Information oder, wie es Gartlehner nennt, zu „sauberem, interessensfreiem Wissen“.
Derzeit werde die Aufbereitung der Daten zum Großteil der Industrie überlassen, was Gartlehner für problematisch hält. Viele Länder hätten sich dieser Problematik längst gestellt, nennt Gartlehner als Beispiele die Schweiz, die allen Bürgern die Cochrane Library zugänglich macht, und Norwegen, wo jährlich 30 Millionen Euro aus dem öffentlichen Budget in ein „Knowledge Center“ investiert werden, um aktuelles medizinisches Wissen aufzubereiten und als „objektive, interessensfreie Information“ zur Verfügung zu stellen.
„Medizinischer Abfall“
Auch Teppo Järvinen, Professor für Orthopädie und Traumatologie an der Universität von Helsinki, hält die zunehmende Kommerzialisierung der Medizin für gefährlich. Jede Krankheit sei nämlich auch eine „Geschäftsidee“, so die These Järvinens, und demzufolge das „Hervorrufen von Ängsten in Bezug auf die Gesundheit das lukrativste Geschäftsmodell unseres Jahrhunderts“. Zum Beweis zitierte er aus einer Analyse der im New England Journal of Medicine zwischen 2001 und 2010 erschienen Studien, wonach sich fast 40 Prozent der beurteilten „Behandlungsstandards“ als völlig unwirksam oder sogar schädlich herausgestellt hätten.
Vieles davon, was im Namen der modernen Medizin gemacht werde, sei daher „nichts anderes als medizinischer Abfall“, lautet die drastische Schlussfolgerung Järvinens. Besonders dramatisch zeige sich dieses Fehlverhalten bei Arthroskopien. „Alle Kollegen lieben sie, Patienten lieben sie. Das Problem daran ist nur, dass die Operation in der Regel eine Lüge ist, die Ergebnisse nicht besser als Placebo. Ähnliches gelte für viele andere Bereiche der Medizin ebenso. „Ich glaube, mehr als 50 Prozent der Interventionen sind reine Verschwendung.“
Informierte Ablehnung
Ein „gute“ medizinische Entscheidung könne durchaus auch in einer „informierten Ablehnung“ einer Intervention bestehen, pflichtet Ingrid Mühlbacher, Professorin an der Universität Hamburg und Vorsitzende des Netzwerks Evidence-Based Medicine (EBM) Järvinen bei. Letztendlich sei es eine ethische Fragestellung, wo „der Nutzen medizinischer Interventionen höher als der Schaden ist, den wir Mediziner anrichten“, ergänzt Barbara Friesenecker, Anästhesistin und Intensivmedizinerin an der Universitätsklinik Innsbruck. „Wir Ärzte haben unseren Patienten transportiert, dass wir alles heilen und alle wieder gesund machen können. Dieses Bild bekommen wir jetzt von den Patienten zurück, die diesen Anspruch an uns stellen.“
Das Thema Sterben als unausweichlichen Teil des Lebens habe die Medizin viel zu lange schon „komplett aus den Augen verloren“, weil es immer noch als „medizinisches Versagen“ interpretiert werde, kritisiert Friesenecker: „Daher schütten wir die Intensivmedizin über Patienten aus, unabhängig davon, ob es Sinn macht oder nicht.“ Bei 40 Prozent aller Patienten würden in den letzten sechs Lebensmonaten nachweisbar sinnlose Therapien durchgeführt.
Es müssen also nicht immer kommerzielle Gründe sein, warum die moderne Medizin dazu neigt, eher zu viel zu tun, also zu wenig – und damit wertvolle Ressourcen verschleudert, die an anderer Stelle dringend benötigt würden. Manchmal ist es einfach auch nur Angst vor der eigenen Courage – oder vor dem Rechtsanwalt. „Wir müssen uns als Ärzte auch wieder mehr trauen, uns mit unserer Erfahrung und unserer Intuition in die medizinischen Entscheidungen einzubringen“, wünscht sich Friesenecker daher.
Daten und evidenzbasiertes Wissen sind aus der modernen Medizin also nicht mehr wegzudenken, so die Experten-Conclusio bei den Gesundheitsgesprächen in Alpbach, und sie böten auch eine ganze Reihe an großen Potenzialen und neuen Möglichkeiten. Alleine durch den Einsatz großer Datenmengen werde die Medizin aber noch lange nicht besser. Auch darüber herrscht am Ende weitgehend Einigkeit.
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